Der Gesang eines Volkes – Russische Ikonen des Nordens

 

Die Ausbreitung des Christentums von den Zentren Moskau, Novgorod und Rostov aus hinein in die nördlichen Gebiete Rußlands, parallel zu den Wanderungen der russischen Bevölkerung im 12. Jahrhundert und zur monastischen Wiedergeburt im 14. und 15. Jahrhundert, führte zur Bildung jenes umfassenden künstlerischen Phänomens, welches von den Wissenschaftlern als der «Stil des Nordens» bezeichnet wird. Dies ist eine Form sakraler Kunst, welche die dogmatischen Inhalte christlicher Ikonographie gemäß dem Geschmack und der stilistischen Strömungen der lokalen Kultur interpretiert. Die großen Klöster des Nordens, die gewaltige Ströme von Pilgern anzogen, die Religiosität des bäuerlichen Volkes, welche von den Rhythmen der Natur und der Landarbeit geprägt war, und die strenge Schönheit der Natur des Nordens bestimmten das Angesicht der Ikonographie der nördlichen Provinzen, das dann wohl je nach geographischer Zone und von der Art des Kunstauftrages her variierte, aber generell durch eine kreative Originalität, seinen Geschmack für das Einfache und Essentielle und von einer tiefen Treue zur christlichen Tradition charakterisiert war.

Eine der bedeutendsten Sammlungen russischer Ikonen des Nordens befindet sich im 1960 gegründeten Museum der Bildenden Kunst in Archangelsk. Wie bei anderen russischen Museen, hauptsächlich in der Provinz, ist die Geschichte auch dieser Sammlung verbunden mit der jahrelangen Arbeit von Forschern und Restauratoren, die bei ihren Nachforschungen im Territorium dieser Provinz auf alte Ikonen stießen, die früher einmal in privaten Wohnungen aufgehäuft worden waren, um sie während der Sowjetzeit vor der Zerstörung zu bewahren, oder die sich in verlassenen Kirchen oder Kapellen befunden hatten. Diese wichtige, oftmals ehrenamtlich durchgeführte Arbeit hat es ermöglicht, zumindest einen Teil dieses reichen Erbes sicherzustellen, das sonst unwiederbringlich verloren gegangen wäre. Es ist auch darauf hinzuweisen, daß die hierbei geretteten Ikonen oftmals Elemente enthalten, die auf ihre Herkunft hinweisen, was den Wert und die wissenschaftliche Bedeutung der Kollektion noch erhöht. Darüber hinaus befanden sich jene Werke, die ins Museum gelangten, generell in einem sehr schlechten Erhaltungszustand; sie wiesen Schäden an der Malschicht und im Malgrund (Levkas) auf, waren von Ruß oder durch eine vieljährige Olifa (Ikonenlack) geschwärzt. Viele dieser Ikonen, die in den Jahrhunderten wiederholt ausgebessert oder übermalt worden waren, wurden nun in den Werkstätten von Moskau, St. Petersburg, Archangelsk oder Vologda restauriert. Intensive Bemühungen um Auffindung und Restauration dieser Ikonen haben es ermöglicht, in kurzer Zeit im Museum der Bildenden Kunst in Archangelsk eine außergewöhnliche Sammlung alter Ikonen zusammenzustellen. Sie umfaßt etwa 1000 Objekte und legt Zeugnis ab von der Originalität der russischen Kultur des Nordens. Sie enthalten, wie gesagt, Elemente, die ihre Herkunft dokumentieren, was den Wert der Kollektion und ihre wissenschaftliche Bedeutung noch erhöht.

 

Die Autorin dieser Monographie, Tatjana Kolzova, ist Forscherin und Mitarbeiterin des Museums der Bildenden Künste in Archangelsk.